Das Kinder­kranken­haus Sonnen­schein

Seit einer umfassenden wissenschaftlichen Studie von 2016 ist das Betheler Kinderkrankenhaus Sonnenschein eines der wenigen Allgemeinkrankenhäuser, dessen Geschichte während der Zeit des Nationalsozialismus erforscht ist – und das, obwohl es kaum Aktenüberlieferung gibt. Wie ist es möglich, dennoch zu differenzierten und validen Aussagen zu kommen? Allgemein ist die Frage nach somatisch erkrankten Patienten und Patientinnen zwischen 1939 und 1945 noch ein Forschungsdesiderat. Grund dafür ist fast überall die unzureichende Quellenlage, bei der eben auch das Betheler Hauptarchiv keine Ausnahme macht. So gehören Patientenakten aus dem Betheler Allgemeinkrankenhausbereich nicht zum Sammlungsprofil des Hauptarchivs; der Schwerpunkt der Überlieferungsbildung liegt hier auf dem Langzeitbereich Epilepsie, Behindertenhilfe, Psychiatrie und Wohnungslosenhilfe. Auch in der Sachaktenüberlieferung zu den Allgemeinkrankenhäusern geht es in erster Linie um administrative und organisatorische Vorgänge, die kaum Rückschlüsse auf die medizinische und pflegerische Versorgung zulassen. Nachdem durch eine Veröffentlichung aus dem Jahr 2014, mit dem Titel „Bethel in der NS-Zeit“, geschrieben von Barbara Degen, der Vorwurf im Raum stand, die Sterberate im Kinderkrankenhaus Sonnenschein sei hoch und weise auf „Kindereuthanasie“ hin – ohne dafür Belege oder Quellennachweise anzugeben –, hatte Bethel sich zur gründlichen Aufarbeitung des somatischen Kinderbereichs entschlossen. In Zusammenarbeit mit dem Institut für Diakonie- und Sozialgeschichte der Kirchlichen Hochschule Wuppertal/Bethel wurde Karsten Wilke mit der Erforschung beauftragt. Wilke, promovierter Historiker und heute wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Geschichte, Ethik und Philosophie an der Medizinischen Hochschule Hannover hatte über anderthalb Jahre hinweg mit zwei studentischen Hilfskräften zu diesem Thema gearbeitet. Und er hat es möglich gemacht, auch ohne eine nennenswerte Sachaktenüberlieferung oder gar eine Überlieferung medizinischer Einzelfallakten, eine Forschungsrahmen zu schaffen, der beispielgebend auch für die Aufarbeitung anderer Kinderkrankenhäuser sein kann: Er hat im Stadtarchiv Bielefeld alle Sterbefallbeurkundungen und die dazugehörigen Sammelakten zu den zwischen 1939 und 1950 im Kinderkrankenhaus verstorbenen Kindern ausgewertet und anhand verschiedener Items, wie Wohnort, Grundleiden, unmittelbare Todesursache oder Begleiterkrankung eine Datenbank aufgebaut. Hinzu kamen die Aufnahmebücher im Betheler Hauptarchiv, in denen ebenfalls erste Diagnosen sowie der Aufenthaltszeitraum genannt sind – und denen vor allem die Gesamtzahl der jährlich behandelten Kinder zu entnehmen ist. Die so entstandenen 3.139 Datensätze mit jeweils zehn Items konnte Wilke einer quantitativen und qualitativen Analyse unterziehen. Hinzu kamen Aktenauswertungen im Landesarchiv NRW Abteilung Ostwestfalen-Lippe, im Stadtarchiv Bielefeld und anhand der Sachakten des Hauptarchivs Bethels. Entstanden ist eine 70-seitige Studie, deren Inhalt die Ursachen für die Sterblichkeit in einem Kinderkrankenhaus erläutert. Sie verweist weder auf bewusste Tötungen noch auf eine außergewöhnlich hohe Sterberate. Wilke betont jedoch die Schwierigkeit der Einordnung seiner Ergebnisse, da es bedauerlicherweise kaum neuere wissenschaftliche Forschungen zu vergleichbaren Kinderkrankenhäusern gibt.