"Die Medizinalisierung setzte in Bethel später ein als in anderen Anstalten und auch später, als der Staat und staatliche Einrichtungen es forderten. Die Ursache lag im Ringen zwischen den akademischen Autoritäten - der theologischen Anstaltsleitung und den Ärzten. So war der theologischen Leitung der Anstalt eine christliche Gesinnung in manchen Belangen wichtiger als ein wissenschaftlich ausgerichtetes Interesse. Doch insbesondere in den 1920er- bis 1940er-Jahren wurde die zunehmende Bedeutung der Ärzte und ihres Handelns in Bethel sichtbar. Die wachsende Zahl der Ärzte und ihre steigende wissenschaftliche Orientierung, die sich unter anderem in renommierten universitären Ausbildungen spiegelten, kennzeichneten diese Entwicklung.
Die Medizinalisierung der Betreuung von Menschen mit Epilepsie, psychischen Krankheiten und geistiger Behinderung nahm insbesondere in den 1930er Jahren an Fahrt auf. Zwar wurde im Haus Mara bereits im Jahr 1933 ein Aufnahmehaus für Epilepsiekranke eingerichtet, doch genauere und spezifischere Diagnosemöglichkeiten und neue medikamentöse Therapieansätze für Anfallsleiden kamen erst in der Nachkriegszeit auf. Bei Patienten mit Epilepsie war das Ziel in den 1920er und 1930er Jahren die Anfallsvermeidung und die Verringerung der Anfallshäufigkeit zu erreichen, mit einer reizarmen Umgebung, einem sehr geregelten Tagesablauf und speziellen diätetischen Regelungen. Eine medikamentöse Therapie mit Bromkalium oder Luminal sollte in Bethel auf jeden Fall versucht werden, so die Aussage der dort tätigen Ärzte. Das Pflegepersonal wurde geschult in der Anfallsbeobachtung und -beschreibung.
Anders verhielt es sich mit der Therapie von psychiatrischen Erkrankungen. Hier kamen in den 1930er Jahren durch die neuen somatotherapeutischen Verfahren wie Insulinkomatherapie, Cardiazol- und Elektrokrampftherapie neue, sehr aufwändige Behandlungsmöglichkeiten hinzu, die auch in der privaten, nicht universitären Anstalt in Bethel und Sarepta angewendet wurden. Indikationen für somatotherapeutische Verfahren waren Diagnosen wie Schizophrenie, akute Psychose oder Depression. In einigen Fällen wurde auch bei Menschen, die wegen einer geistigen Behinderung oder einer Epilepsie in den v. Bodelschwinghschen Anstalten lebten, durch ein Schockverfahren eine Verhaltensänderung erwirkt. Die Malariafiebertherapie wurde sehr spezifisch bei Patienten mit diagnostizierter progressiver Paralyse angewendet. Die Indikationen für die Insulinkomatherapie, die Cardiazol- und die Elektrokrampftherapie waren nicht so spezifisch und wandelten sich auch über den Untersuchungszeitraum. Neben einer medizinischen Indikation für ein somatotherapeutisches Verfahren gab es auch den Wunsch der Patienten bzw. der Angehörigen nach einem solchen Therapieverfahren.
Im medizinischen Feld wurde nach dem Krieg unter der Ägide von Chefarzt Schorsch die Forschung im Bereich der Epilepsie (EEG) und der psychiatrischen Erkrankungen mit medikamentösen und Elektrokrampftherapien ausgebaut."