Fürsorge­erziehung in der Bundes­republik der 1950er und 1960er Jahre

Die Überlieferung der Sachakten zur Betheler Zweiganstalt Freistatt im Zeitraum der 1950er und 1960er Jahre im Hauptarchiv Bethel ist gut. Es handelt sich um offiziellen Verwaltungsschriftwechsel, wie Protokolle, Berichte und Korrespondenzen zwischen verschiedenen Leitungsebenen. Alles historische Dokumente, die äußerst quellenkritisch auszuwerten sind, wenn es um Lebensbedingungen und Alltagserfahrungen von Menschen in Betreuungssituationen geht. Dessen waren sich die Forschenden, die im Rahmen des Instituts für Diakonie- und Sozialgeschichte an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal/Bethel tätig wurden, sehr bewusst, als sie sich für mehr als zwei Jahre an die intensive Beschäftigung mit der Geschichte der Fürsorgeerziehung in einer diakonischen Einrichtung begeben haben. Nicht zuletzt deshalb wurde das schriftliche Quellenmaterial um Interviews mit damals Betreuten erweitert. Eine wichtige und notwendige Ergänzung zur Einordnung historischen Quellenmaterials. Die Perspektive der Betroffenen wurde zudem durch die kritische Auswertung von Einzelfallakten erweitert, wozu einige der ehemals Betreuten ihre Zustimmung gegeben hatten. Um den Untersuchungsgegenstand besser kennenzulernen, hatte sich das Forschungsprojekt dazu entschlossen, die Fürsorgeerziehung in Freistatt seit Beginn, also seit 1899 zu untersuchen. Zudem erfolgte die Erweiterung in die Diakonissenanstalt Sarepta und deren Entsendung von Diakonissen in Fürsorgeerziehungseinrichtungen sowie um die Betrachtung der Jugendhilfe in Eckardtsheim, einer weiteren Betheler Zweiganstalt, in der im geringen Umfang ebenfalls Jugendliche im Rahmen der Fürsorgeerziehung betreut wurden.

Die Untersuchungsergebnisse galt es einzuordnen sowohl in den allgemeinen Umgang mit Jugendlichen in der frühen Bundesrepublik wie auch in das besondere System der Diakonenanstalt Nazareth, die das Personal für die Erziehungshäuser stellten.

Mit der umfassenden Studie, die 2009 erschien, konnte Bethel einen wesentlichen Beitrag bei der Aufarbeitung der damals hoch aktuellen Diskussion um die Fürsorgeerziehung in der frühen Bundesrepublik leisten. Das erschütternde Ergebnis: „Die Fürsorgeerziehung in den 1950er und 1960er Jahren geschah auch in den Betheler Einrichtungen in einem System, das häufig von Gewalt, Einschüchterung und Angst geprägt war“, betont der Vorstandsvorsitzende Pastor Ulrich Pohl in seinem Geleitwort und bat „im Namen Bethels in aller Form um Entschuldigung und von Herzen um Vergebung!“

Die Verantwortung für diesen Teil der Geschichte endete nicht mit dem Buch. Nachdem Bethel die Dreharbeiten zu dem Spielfilm Freistatt (2015) umfassend unterstützt hatte, entstand in Zusammenarbeit mit dem Hauptarchiv Bethel im Haus Moorhort eine Erinnerungsstätte, in der die Jugendfürsorgeerziehung in Freistatt anhand von Ausstellungstafeln, historischen Dokumenten, Fotos und Ausstellungsgegenständen einer interessierten Öffentlichkeit zugänglich ist.

 

Literatur:

Benad, Matthias/ Schmuhl, Hans-Walter/ Stockhecke, Kerstin (Hg.), Endstation Freistatt – Fürsorgeerziehung in den v. Bodelschwinghschen Anstalten Bethel bis in die 1970er Jahre (= Schriften des Instituts für Diakonie- und Sozialgeschichte an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal/Bethel; 16), Bielefeld 2009/2011.